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Sigmar Polke

Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, Teil 3: Politik

Das politische Interesse und Engagement Sigmar Polkes und seiner Künstlerfreunde steht im Mittelpunkt des dritten Teils Politik der Ausstellung Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Damit beginnt der letzte Teil des außergewöhnlichen Ausstellungsprojekts, das Ende September durch den internationalen Kunstkritiker-Verband AICA ausgezeichnet und zur „Ausstellung des Jahres“ gewählt wurde. Die Hamburger Kunsthalle zeigt ausgehend von Polkes zuvor weithin unbekannter Kleinbürger-Werkgruppe aus den Jahren 1972 bis 1976 in drei aufeinander folgenden, sich ergänzenden Ausstellungsteilen die vielfältigen, bislang wenig beachteten künstlerischen Strategien der 1970er Jahre.  

Foto-, Film- und Dia-Arbeiten, Zeichnungen und Gemälde demonstrieren in Verbindung mit dokumentarischen Materialien und Bildvorlagen die experimentelle Bandbreite dieser produktiven Dekade. Über hundert Werke und Werkgruppen aus internationalen Museums- und Privatsammlungen stellen die kleinen und großen Fluchten aus bürgerlichen Welten, alte und neue gesellschaftliche Utopien zur Disposition. Politik wirft einen Blick auf die historische Kritik an den ökonomischen, medialen und politischen Bedingungen von Kunst und Gesellschaft. Der dritte und letzte Teil der Ausstellung fragt, wo in den 1970er Jahren, also in einem Jahrzehnt, in dem Utopien in gewaltsames Handeln umschlugen, die berühmte Grenze zwischen Kunst und Leben verlief. Dabei wird Sigmar Polkes kaum zu überschätzende Vorreiterrolle für die figurative Malerei und die subversiven Aktionen jüngerer Generationen sichtbar.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht weiterhin das Kleinbürger-Ensemble – zehn großformatige Arbeiten auf Papier, die einen Wendepunkt in Polkes Œuvre markieren: Hatte er in den Rasterbildern und dem Kapitalistischen Realismus der 1960er Jahre die Lebenswelt der Wirtschaftswunderzeit ironisch analysiert, geht er hier zum Angriff auf gesellschaftliche Normen über. Ein Panorama der von Hippietum, Proto-Punk, Frauenbewegung und Terrorismus geprägten Zeit verleiht der Hoffnung auf alternative Lebensmodelle Ausdruck. Mit der Präsentation einer zweiten vielteiligen Werkgruppe Polkes aus den 1970er Jahren, Original + Fälschung, ist erstmals die Möglichkeit einer Zusammenschau dieser beiden zentralen Werkblöcke geboten. Original + Fälschung wurde 1973 zum ersten Mal ausgestellt und nun auf besondere Weise präsentiert: In einer Wiederherstellung der damaligen Inszenierung mit hunderten Spiegeln und farbigen Leuchtstoffröhren.

Bereits in den beiden vorangegangenen Teilen, Clique, der sich dem künstlerischen Austausch innerhalb west-deutscher und auch internationaler Subkulturen widmete, und Pop, der die vielschichtigen Strategien des Adaptierens, Multiplizierens, Sampelns und Umdeutens populärer Medienwelten zeigte, wurde deutlich, dass Polke & Co. Populärkultur mit Underground und politischem Aktivismus für ihren Post-Pop verbinden. Auf Ausdrucksformen politischen Protests verweist etwa die Arbeitsweise, Vorlagen mit Hilfe von Schablonen zu vergrößern und auf Bildträger zu sprayen. Sigmar Polkes Kunst beschränkt sich dabei keineswegs auf Leinwandformate und museale Präsentationsformen. Zum vergänglichen Teil seiner ästhetischen Praxis gehören zum Beispiel Aktionen, wie die zirkusähnliche Gala Salto arte zur Unterstützung der linksradikalen und zeitweise verbotenen belgischen Zeitschrift POUR (écrire la liberté). Zahlreiche Arbeiten, etwa von Katharina Sieverding, Klaus Mettig, Astrid Heibach oder Achim Duchow zeigen die Begeisterung der Gruppe für Spielarten des Performativen jenseits von Kunstinstitutionen und bürgerlichen Normen.

Künstlerbücher in Skriptmanier, aus Boulevardblättern zusammengesetzte Bildgründe, politische Embleme der DDR und von Gewerkschaften oder großformatige Gemälde mit den Konterfeis von RAF-Terroristen karikieren Geschichtsbilder und entlarven politische Symboliken des Establishments in West und Ost. In einer Kooperation mit Klaus Staeck für den Bundeswahlkampf 1972 oder in Fotografien von New Yorker und Kölner Bettlern bezieht sich Sigmar Polke auf konkrete tagespolitische Geschehnisse und soziale Realitäten. Zudem bedienen sich Polke & Co. der ätzend provokanten Bildsprache internationaler Satire-Magazine, lassen in Zeiten der zweiten Frauenbewegung Geschlechterklischees aufeinanderprallen oder suchen nach alternativen Formen von Sexualität. Das Besondere dabei ist die Verquickung eindeutig politisierter Schlagbilder – wie dokumentarische Fotografien oder Wahlplakate – mit psychedelischen Strategien. So gelingt es den Künstlern eine kritisch-humorvolle Distanz zur Lebenswelt der BRD herzustellen und autoritär vorgetragene Ideologien als Peinlichkeit vorzuführen.  

Zeitgleich mit der Ausstellung ist im Verlag der Buchhandlung Walther König eine von Petra Lange-Berndt und Dietmar Rübel herausgegebene, umfangreiche Publikation erschienen, die den Entstehungskontext von Wir Kleinbürger – Zeitgenossen und Zeitgenossinnen aufarbeitet und die Serie in einem größeren Zusammenhang verhandelt.

Ermöglicht durch die Michael & Susanne Liebelt-Stiftung