Sehnsucht?
»Vieles beginnt mit Sehnsucht. Wir sehnen uns nach einem Neuanfang, nach Vergangenem und nach Vollkommenheit. Meist sehnen wir uns nach etwas Unerreichbarem.
Sehnsucht ist ein Gefühl, das nach Veränderung strebt. Auch Caspar David Friedrichs Wanderer ist ein Suchender: Als einsame Figur steht er mit dem Rücken zu uns auf einem Felsen, vor ihm steigen zerklüftete Bergspitzen aus vorbeiziehenden Nebelschwaden auf. Er steht dort, wo wir stehen würden. Wohin er blickt, wissen wir nicht. Selten sieht man eine einzelne Figur so groß – von hinten. Da verwundert es nicht, dass sich unzählige Menschen bis heute in ihn hineinversetzen können. Indem wir nicht wissen, wer er ist, wie er aussieht, was er denkt, wird er für uns zur idealen Projektionsfigur. Den Gipfel erklommen, scheint er am Ziel. Und doch entfaltet sich vor ihm die ungeheure, unbetretbare Weite. Das Unberührte und Unerreichte zieht Menschen damals wie heute in ihren Bann. Dass die Sehnsucht dabei ein sehr individuelles Gefühl ist, prägt die ikonische Arbeit umso mehr – wir alle sehen etwas anderes. Es ist mehr ein Zustand, den Friedrich hier beschreibt: ich allein, auf das Ungewisse blickend.
Jan Steinke (ehemaliger wissenschaftlicher Volontär, wiss. Mitarbeiter im Kupferstichkabinett)